Der Wetterbericht fürs Wochenende war vielversprechend. Blauer Himmel, ohne dass es aber zu heiß werde sollte, der Bise sei dankt! Der erste Gedanke war an etwas technisches, am oberen Ende der Schwierigkeitsskale. Nur hatte ich meinen Helm in der Hütte im Arni und das “Notseil”, das ich in solchen Situationen jeweils mitnehme, war natürlich auch dort. Nun gut, dann sollte es eben etwas für die Ausdauer sein. Ein kurzer Blick auf meine Wunschliste ergab schnell einen geeigneten Kandidaten: Der Brienzergrat von Interlaken zum Brienzer Rothorn. Der Gedanke, unterwegs zu biwakieren, wurde schnell verworfen. Ich wollte leicht unterwegs sein und nicht die ganze Strecke den Schlafsack und die anderen Biwakutensilien mitschleppen. Bei der Vorbereitung untersuchte ich weder, wie lange die Wanderung denn dauern würde, noch machte ich mir Gedanken über die Beschaffenheit des Weges. Ich überlegte mit einzig, in welche Richtung ich gehen wollte und kam zum Schluss, dass am Ende das Brienzer Rothorn sein sollte, quasi der Höhepunkt der Wanderung. So naiv muss ich nachträglich sagen …

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Der Plan war, um 04:00 in Interlaken loszumarschieren. So konnte ich den Sonnenaufgang um 05:34 schon weit oben am Berg genießen und würde einen Großteil der Wanderung in den kühlen Morgenstunden absolvieren. Da ich mit den Vorbereitungen (Planung und Packen des Rucksacks) erst weit nach Mitternacht fertig war, entschloss ich mich, gar nicht erst ins Bett zu gehen sondern gleich nach Interlaken zu fahren und dann dort noch bis um 4 Uhr im Auto zu schlafen. Schlussendlich gab es noch 45 Minuten Powernap in irgendeiner Garage in Interlaken bevor es los ging.

In wenigen Tagen ist die Sonnenwende, sprich der längste Tag für die Nordhalbkugel. So war es jetzt selbst um 4 Uhr nicht mehr dunkel. Die astronomische Dämmerung beginnt nämlich aktuell bereits um 02:40, gefolgt von der nautischen um 04:00 und um 04:50 der zivilen. Gepaart mit einem halben Mond hätte ich eigentlich gar kein zusätzliches Licht gebraucht. Nur ging der Weg anfangs durch den Wald, sodass doch eine Lampe nötig war. Zu dumm, dass ich meine Stirnlampe im Auto gelassen hatte. So musste das Handy als Beleuchtungsquelle hinhalten. Was würde man nur ohne diese modernen Hilfsmittel machen …  Zwinkerndes Smiley 

Interlaken vom ersten Aussichtspunkt. Im Hintergrund sieht man den Mönch und die Jungfrau.

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Der Aufstieg war unspektakulär. Einzig gibt es zu erwähnen, dass meine “leichte” Packung doch gar nicht so leicht war. Heute war ich ja den ganzen Tag auf einem Grat unterwegs und naturbedingt gibt es auf einem Grat keinen Bach und damit auch kein Wasser zum Nachfüllen der Trinkflaschen. So hatte ich 4.5 Liter Getränk dabei.

Pünktlich zum Sonnenaufgang war ich auf der Harderkulm oberhalb von Interlaken. Diese ist auch über eine Standseilbahn erreichbar und sicher ein beliebtes Ziel von all den Touristen, die sich in dieser Region tummeln. Jetzt herrschte aber noch die absolute Ruhe. Ich war etwas überrascht, als kurz nach mir 2×2 weitere Wanderer hier oben ankamen. Es stellte sich bald heraus, dass das Trail-Runner waren, denn sie verschwanden wenig später rennend aus meinem Gesichtsfeld.

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So konnte ich ungestört Bilder von der morgendlichen Stimmungen machen. Blick von der Aussichtsplattform Richtung Westen. Markant ragt der Niesen in den Himmel empor.

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Der Blick nach Süden darf natürlich auch nicht fehlen. Der Eiger und Mönch wurde bereits von der Sonnen beleuchtet, während die Jungfrau noch im Schatten lag.

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Panorama von der ganzen Region inklusive der Kuh auf der Aussichtsplattform. Da ich noch einen weiten Weg vor mir hatte, ging ich nach wenigen Minuten weiter.

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Sonnenaufgangsstimmung vom ersten richtigen Berg von heute, dem Wannichnubel.

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Der Weg war oft mit Wurzeln durchsetzt oder zum Teil doch noch recht schmierig, sprich rutschig. Da der Weg nicht ausgesetzt oder sonst wie gefährlich war, schenkte ich dem keine grosse Beachtung. Und prompt produzierte ich zwei Ausrutscher in die Botanik. “Uiuiui”, dachte ich mir, “wenn das an andere Stelle geschehen wäre, hätte es unschön endet können”. Aber ich war ja heute auf einem einfache Weg unterwegs, also war es kein Problem …

Blick auf das Augstmatthorn. Der ist aber noch recht weit weg?!

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So, jetzt sieht es schon besser aus. Man soll sich nicht durch die schroffe Form des Berges Richtung Süden irritieren lassen. Der Weg war wirklich easy.

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Deutlich ist die Dunstschicht im Gegenlicht zu erkennen.

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Der Blick zurück zu meiner Aufstiegsroute.

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Geschafft! Der erste “richtige” Berg, das Augstmatthorn, war erklommen. Zeit für das Frühstück.

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Panorama vom ganzen Brienzersee. An dieser Stelle muss ich eigenstehen, dass die Fotos nicht die ganze Wahrheit zeigen. Die Realität ist noch eine ganze Spur besser! Die Dunstschichten im Gegenlicht der Sonne, der Hammer.

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Natürlich durfte auch der Kontroll-Blick zum Eiger/Mönch/Jungfrau nicht fehlen. Es gab keinen Grund zur Sorge. Die berühmten Berge waren immer noch da !

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Auch wenn ich es nicht sofort merkte, ich wurde auf Schritt und Tritt beobachtet. Mrs. Steinbock wollte genau wissen, was hier los ist.

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Ok, diese Steinböcke können dort ruhig rumturnen, solange ich das nicht auch muss.

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Alpenflora. Bei dieser Aussicht würde ich auch gut gedeihen.

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Vor einer Woche auf der Schwalmis-Tour war der Mond noch voll. Jetzt war er nur noch halb, so schnell geht das.

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Vom Blasenhubel, dem nächsten Berg auf meiner Tour, war nun erstmals der ganze Weg bis zum Brienzer Rothorn einsehbar. Ich war jetzt schon 4:30h unterwegs und es sah doch noch recht weit aus. Das würde bestimmt noch ein paar Stunden dauern. Kein Problem, der Weg war ja einfach und mit der Sonne zunehmen trocken!

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Detailansicht vom Weg über den Grat.

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Ich hatte mir unterwegs mehrfach überlegt, wem ich diese Wanderung empfehlen könnte. Sensationelle Aussicht, einfacher Weg und mit der Bahn auf den Harderkulm existiert auch eine einfache Möglichkeit, die Höhenmeter etwas zu reduzieren.

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Wie eben erwähnt, die Aussicht ist fantastisch.

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Auf dem weiteren Verlauf der Wanderung gab es oft Wolkenfetzen, die den Grat leicht umhüllten und das Fotografenherz höher schlagen ließen.

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Meine ursprüngliche Bewertung für die Schwierigkeit der Wanderung musste ich nach dem Augstmatthorn doch deutlich anpassen. Das T3 war bald nicht mehr zutreffend. Der Grat stellte sich auf, die Hänge wurden abschüssiger und der Weg schmaler.

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Auch machte sich langsam die Müdigkeit bemerkbar. In Sachen Ausdauer war ich offensichtlich noch nicht in Höchstform. Aber der Höhenmesser zeigt auch schon über 2000 Meter Aufstieg und ich war schon über 7 Stunden unterwegs.

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Wie schon erwähnt, der Weg wurde zunehmend anspruchsvoller. Ich war in der Zwischenzeit bei meiner eigenen Bewertung bei einem T4 angekommen. Zwei Kreuze im Aufstieg zum Tannhorn zeugten auch davon, dass das durchaus ernst gemeint ist. Marcel R.I.P!

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Aussicht vom Tannhorn. Leicht andere Perspektive vom Brienzersee, die Farbe, Wahnsinn!

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Zwei Wanderer, die in der entgegensetzten Richtung unterwegs waren, wiesen mich auf dem Tannhorn darauf hin, dass jetzt ein etwas schwieriger Abschnitt kommen würde. Ich solle doch darauf achten, dass mir niemand entgegen kommt. Danach sei aber alles einfach und ohne Problem zu meistern.

Okok, das sieht ja schon recht abschüssig aus. Und es war es auch. Auf beiden Seiten ging es tüchtig steil nach unten, Fehltritt definitiv unerwünscht. War ich heute nicht auf einer langen aber leichten Tour unterwegs? Das “lang” war zutreffend, aber das mit dem “leicht” war spätestens hier Geschichte.

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Der Blick zurück zum Abstieg vom Tannhorn. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt schon über 8 Stunden in den Knochen und mit der Müdigkeit steigt auch die Wahrscheinlichkeit für einen Stolperer. Entsprechend vorsichtig war ich den Abstieg angegangen.

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Bei der Umgehung des unteren Felsens gab es erstaunlicherweise sogar noch ein Seil.

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Der weitere Weg zum Brienzer Rothorn war vergleichbar harmlos. Blick zurück.

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An manchen Stellen musste man sich aber dennoch konzentrieren.

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Angekommen! Aussicht vom Brienzer Rothorn. Der Blick nach unten wurde immer wieder durch Wolkenfetzen versperrt.

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Ich war jetzt über 10 Stunden unterwegs und so ziemlich fix und fertig. Deshalb überlegte ich mir etwas, was ich sonst nie mache: Die Fahrt nach unten mit der Bahn. Es waren aber noch über 45 Minuten bis zur Abfahrt des Dampfzuges… studier … überleg …

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Nach einer halben Flasche Coke und etwas rechnen entschloss ich mich zu einem Abstieg zu Fuß. Congratulations!

Ich hätte noch 45 Minuten auf dem Zug waren müssen und dieser braucht selber über 1 Stunde bis ins Tal. In dieser Zeit wäre ich bestimmt auch unten. Der offizielle Wanderwegweiser gab 3:45h für den Weg nach Brienz an. Das konnte und würde ich bestimmt deutlich unterbieten. So ging es im Laufschritt los nach unten, einzig aufgehalten durch die zahlreichen Fotostopps.

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Der Blick nach oben zeigte, dass sich der Zug nun auch auf den Weg nach unten gemacht hat.

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An dieser Stelle möchte ich natürlich niemandem die Brienzer Kühe vorenthalten. Ob Kühe glücklich sind, ist eine Frage, die mich immer wieder auf meinen Wanderungen beschäftigt. Ich kann diese Frageaber immer noch nicht abschließend beantworten. Auf Alpweiden treffe ich immer wieder auf Kühe, die ein anscheinend perfektes und glückliches Leben führen können. Aber sind sie wirklich glücklich? Im Vergleich zu einer Kuh, die das ganze Leben lang in einem Stall steht? Schwierige Frage. Vielleicht hat eine Kuh ein anderes Verständnis von Glück. Oder vielleicht ist sie wirklich glücklich und gibt besonders gute Milch …

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Schlussendlich brauchte ich 1:15h für den Abstieg nach Brienz und traf somit noch vor der Dampfzug ein!

Meine leichte Wanderung mit Ausdauercharakter entpuppte sich als Langdistanzwanderung mit technischen Herausforderungen. Eine nachträgliche Recherche ergab, dass die Tannhorn Überschreitung mit einem T5 gewertet wird und damit definitiv nicht mehr für den Nachmittagsspaziergang geeignet ist. Meine Sportuhr zeiget schlussendlich:

Gesamtdauer: 11:20h
Höhenmeter: 2813 m
Distanz: 32.28 km
Steps: 54732
Kalorien: 2210 kcal

Ich finde speziell die Kalorien-Berechnung toll. Die gefriergetrockneten Essensrationen, die ich normalerweise zum Biwakieren mitnehme, haben circa 600 kcal. Jetzt könnte ich 4 davon essen. Normalerweise ist eine schon mehr als genug … Smiley 

Zusammenfassend kann ich sagen, dass der Brienzergrat für jedermann von Interlaken bis zum Augstmatthorn gut geeignet ist. Danach sollte man lieber die Finger bzw. die Schuhe lassen, wenn man nicht schon im T4+-Bereich Erfahrung gesammelt hat. Ausserdem würde ich die entgegengesetzte Richtung empfehlen, da man so die schwierigen Stellen am Anfang begeht und nicht erst gegen Ende der Wanderung.